Hoch oben auf dem majestätischen Piz Lagalb flattern bunte
Fähnchen
– blau, weiss, rot, grün und gelb – mit mysteriösen
Symbolen und geheimnisvoller Schrift im Wind.
Es sind buddhistische
Gebetsflaggen, die hier den Naturgewalten trotzen und an
den Himalaya erinnern.
Das atemberaubende Bergpanorama mit
den Gipfeln des Palü, Bernina und Morteratsch sowie Tschierva und
Boval wirkt ähnlich imposant wie das Dach der Welt. Darum ist es
nicht erstaunlich, dass dieser himmelwärts strebende Kraftort eine
ganz spezielle Verbindung zum Himalaya und dem höchsten Berg
der Welt, dem 8848 Meter hohen Mount Everest, hat. So stellen sich
nämlich ambitionierte Wintersportler an diesem Ort der Herausforderung,
an einem einzigen Tag 8848 Höhenmeter teils rauf, teils
runter zu hetzen. Um dies zu schaffen, müssen sie vier Mal zu Fuss
von der Bergstation zum Piz Lagalb hinaufsteigen und elfmal die
Piste zur Talstation hinunter brettern. Wer diese schweisstreibende
Aufgabe
erfolgreich meistert, wird Mitglied im Club 8848.
Die Clubgeschichte beginnt im Jahr 1970 mit Eugenio Rüegger, dem damaligen Geschäftsführer der Lagalb-Bahn. Sein Ziel war es, mehr Skibegeisterte auf die Lagalb zu lotsen. Dies wollte er mit dem Bezug zum weltweit bekannten Mount Everest bewerkstelligen. Schon bald gehörten dem Club prominente Mitglieder an, wie etwa der damalige kanadische Premierminister oder der Schah von Persien. Letzterer hatte gleich alle 19 Bodyguards mit im Schlepptau, die ebenfalls zu Clubmitgliedern avancierten. Bis in die 1980er-Jahre zählte der Club 1000 Mitglieder. Und hatte einen Zähler weniger: Er hiess damals noch nicht «Club 8848», sondern «Club 8847». Eine Messung der Briten aus dem Jahre 1952 definierte die Höhe des Mount Everests auf exakt 8847,842 Meter. Während bei der Clubgründung abgerundet wurde, entschied sich die Neuauflage fürs Aufrunden. Ein neuer Name sollte eine neue Ära einleiten. Denn trotz weltweiter Presse und internationalen Mitgliedern geriet der Club vor gut 30 Jahren zunehmend in Vergessenheit. Erst eine tragische Nachricht beendete diesen Dornröschenschlaf.
Es war im Jahr 2015, als bekannt wurde, dass der Betrieb der Lagalb-Bahn nach jahrelangen Verlusten eingestellt werde. Martina Walther, heutige Präsidentin des Club 8848, erinnert sich. Das dürfe doch nicht sein, ging ihr durch den Kopf. «Die Lagalb löst bei Skisportlern seit über fünfzig Jahren eine Faszination aus, wie kaum ein anderer Berg.» Als sie in jener Saison das letzte Mal zur Lagalb hochgegondelt sei und die letzte Abfahrt in Angriff genommen habe, «war es mir richtig traurig zumute», sagt sie. Aber es sollte nicht das Ende sein. Die Lagalb hatte zu viele Anhänger. Darunter die Reeder-Familie Niarchos. Im Jahr 2016 beschlossen die Brüder Philip und Spyros Niarchos die Rettung der Bergbahn Lagalb. Sie übernahmen die Anlagen der Lagalb und Diavolezza von der Firma «Engadin St. Moritz Mountains AG». Im Gegenzug erhielt diese von der Familie Niarchos gut rentierende Anlagen im Skigebiet Corviglia- Piz Nair. Nun galt es, für eine prosperierende Zukunft des Skibetriebs zündende Ideen zu finden. «Da entstand die Idee, dem Club 8847 wieder Leben einzuhauchen», sagt Martina Walther. Sie nahm sich der Aufgabe als Präsidentin an. «Ich war bereits im ursprünglichen Club 8847 Mitglied und wollte meinen Beitrag zu einer erfolgreichen Zukunft der Lagalb-Bahn leisten.» So verkündete der Vorstand auf die Wintersaison 2018/19 die Neulancierung des frisch umgetauften Club 8848. Kaum einer vermutete, auf wie viel Gegenliebe dies stossen würde.
Pünktlich um 8.30 Uhr steht Nik Meuli aus La Punt mit Skiern
ausgerüstet in der Gondel, die ihn auf die Lagalb bringen soll. Er ist
neugierig: «Mich interessiert, was es braucht, um die Distanz zu
meistern.» Dass ihn die Aufgabe überfordern könnte, glaubt er nicht.
Oben angekommen zeigt er auf den Piz Palü. «Dort war ich Ende
Januar, allein.» Als Skitourengänger und Solo-Kletterer erklimmt er
jährlich gut ein Dutzend Berggipfel. Auch im Himalaya war er
bereits unterwegs. Die heutige Aufgabe wird er ebenso auf sich alleine
gestellt bewältigen. Doch der Einzige, der heute um eine Mitgliedschaft
im Club 8848 kämpft, ist er nicht. Ebenfalls in der ersten
Gondel steht Karin Thalmann. Die Lagalb ist bei der Zürcherin
eng mit Kindheitserinnerungen verknüpft. Seit jeher komme sie
im Winter hierher, zu ihrem Lieblingsberg. «Die Pisten sind ideal,
um sich sportlich auszuleben, und auch nie überlaufen.» Mit einer
Mitgliedschaft im Club 8848 möchte sie die Verbundenheit mit der
Lagalb festigen. Dabei ist sie optimistisch, die Herausforderung
zu
meistern. Ihre Strategie sei es, als Erste auf der Piste zu sein. Sagt’s
und fährt los. Meuli begibt sich währenddessen zum gekennzeichneten
Stand des Club 8848 bei der Bergstation Lagalb. Hier nimmt er
für zehn Franken sein Club-8848-Kit entgegen, bestehend aus einer
Armbinde, die ihn als Clubaspiranten ausweist, sowie einer Karte,
die jeweils auf dem Piz Lagalb und der Talstation abgeknipst wird.
Während Karin Thalmann bereits die erste Abfahrt antritt, zieht’s
Meuli hoch zum Gipfel – ganz nach der Devise: «Erst die Arbeit, dann
das Vergnügen.» Von der Bergstation aus scheint die Distanz hoch
zum Piz wie ein Katzensprung. Doch die 66 Höhenmeter haben es in
sich. Und die Luft mag zwar nicht so dünn sein wie auf dem Mount
Everest, aber doch sauerstoffärmer als im Unterland. So erzählt manches
Club-Mitglied, dass die elf Abfahrten wohl für einen saftigen
Muskelkater in den Oberschenkeln sorgten, es aber die Fussmärsche hoch zum Gipfel waren, die den Schweiss aus den Poren trieben.
Meuli jedoch geht leichtfüssig hoch, als gäbe es keinen Anstieg.
«Wir Engadiner sind von klein auf viel unterwegs.» Sport gehöre
für ihn zum Alltag. «Die Natur des Engadins ist meine Spielwiese.»
Doch nicht nur durchtrainierte Bergsportler sind unterwegs. Auch die 11-jährige Cécile aus der Valposchiavo treffen wir auf dem Gipfel. Claudio Menghini, der Onkel der jungen Gipfelstürmerin, ist glücklich, dass es den Skibetrieb auf der Lagalb noch immer gibt. «Die Lagalb ist der Hausberg von uns Puschlavern.» Und deshalb sei er heute mit seiner Frau und der Nichte am Berg: «Mit der Teilnahme am Club 8848 möchten wir den Betrieb hier unterstützen.» Und sie haben sich für die Herausforderung einen wunderschönen Tag ausgesucht. Die Sonne scheint, der Wind hält sich in Grenzen und die Pisten sind genussvoll zu fahren. Runter geht’s rasant, immerhin führt einen die schwarze Piste über die steilste Abfahrt des Kantons Graubünden. Oder alternativ über die etwas zahmere rote Piste. Um die Mittagszeit kommt Karin Thalmann strahlend aus dem Bergrestaurant Lagalb. Sie hat sich eine kurze Pause und eine Stärkung in Form feiner Pizokel geleistet. Ihre Strategie sei soweit gut aufgegangen, sie müsse nur noch eine Abfahrt bestreiten, jedoch noch dreimal auf den Piz hoch marschieren. «Das ist mein Verdauungsspaziergang », sagt sie und lacht. Auch die Puschlaver trifft man gutgelaunt vor der Bergstation. Sie haben den Gipfel bereits viermal erklommen, freuen sich auf die letzten vier Abfahrten. Sie alle scheinen auf bestem Weg, Clubmitglied zu werden und würden damit zu einem immer grösser werdenden Kreis gehören. Club- Präsidentin Martina Walther zieht nach dem ersten Jahr Bilanz: «Wir durften bereits 629 neue Mitglieder willkommen heissen.» Man rechnete gerade mal mit 200. «Wir hatten sogar Engpässe bei den Pins.» Diese sind der Stolz der Mitglieder, sie zeigen das Logo des Clubs und dass der Träger die Höhenmeter des Mount Everests an einem Tag gemeistert hat. Für die kommende Saison hat man bereits vorgesorgt. Die Pins liegen bereit.