Klack, klack. Klack, klack. In den Strassen des Engadiner Dorfes La Punt Chamues-ch erklingen seltsame Laute. Klack, klack. Stöckelschuhe? Aber so viele? Klack, klack. Das Dorf scheint fast wie ausgestorben, es ist ruhig zwischen den Patrizierhäusern und Holzställen. Zwischen dem Piz Blaisun und dem Piz Mezzaun. Nur dieses eine Geräusch bricht die Morgenstille. Klack, klack. Schliesslich erblickt der erstaunte Zuschauer eine Gruppe Männer in engen Anzügen. In den Händen tragen sie Skier. Und rennen durchs 700-Einwohner-Dorf, als seien sie auf der Flucht. Klack, klack. Es folgt Stille. Und dann hört man es wieder. Und wieder stürmt eine Gruppe durchs Dorf. Insgesamt 284 Läuferinnen und Läufer rennen an diesem Samstagmorgen im Februar durch den am Südfuss des Albulapasses gelegenen Ort. Gestartet sind sie 35 Kilometer den Inn aufwärts in Maloja. Und eigentlich befahren sie die Strecke mit Langlaufskiern. Nur in La Punt Chamues-ch heisst es abskiern, denn die Route führt über die schwarz geräumten Strassen quer durchs Dorf und erst danach wieder auf Loipen bis zum Ziel, dem Center da Sport in Zernez.
Das Langlaufrennen Maloja-Zernez ist mit einer Strecke von 58 Kilometern das längste seiner Art im Engadin. Das Motto lautet: Die Stunde der Wahrheit. Guolf Denoth, Wettkampfleiter und seit 2003 Präsident des Skiclubs Sarsura Zernez sagt: «Hier tritt man weniger gegen die Konkurrenz an, sondern muss sich dem vielleicht schwierigsten Gegner stellen: sich selbst.»
Das Langlaufrennen Maloja-Zernez ist mehr als nur ein Wettkampf. Es ist ein Anlass für Gleichgesinnte, für Liebhaber des Engadins, für Freunde des Langlaufsports. Und für viele der freiwilligen Helfer des grossen, weitaus bekannteren Engadin Skimarathons, die an diesem nicht selber starten können, sich aber die Herausforderung eines Rennens nicht entgehen lassen wollen. Der Anlass beginnt schon lange vor dem Startschuss, am frühen Morgen, wenn die Sonne erst die obersten Gipfel des Tals erreicht. Rauch steigt aus den mit Sgraffiti verzierten Engadinerhäusern. Einige verwegene Vögel versuchen, den Frühling herbei zu zwitschern. Zu früh. Noch zeichnet der eigene Atem Nebelschwaden in die eiskalte Luft. Das Thermometer zeigt –10 Grad an. Die Strassen sind leer. Fast leer. Drei Postautos tingeln entlang der Dörfer von Zernez nach Maloja und laden insgesamt rund 150 Langläufer auf. Wer einen der Busse betritt, wird von den Helfern des Skiclubs Sarsura Zernez empfangen und erhält seine Startnummer. Die Sitzreihen füllen sich, die Stimmung ist entspannt. Reto Curti ist einer der Läufer. Der Innerschweizer Tierarzt reiste in der Früh nach Zernez an, wo er den Bus nach Maloja bestieg. Sein Tag dauert schon einige Stunden, man spürt es, «Es geht hier nicht um Prestige, sondern um den Sport und die atemberaubend schöne Natur.» RETO CURTI Teilnehmer er wirkt hellwach, ist voller Tatendrang. Es sei nicht seine erste Teilnahme, bereits fünf Mal habe er die Aufgabe gemeistert und: «Für mich ist es das schönste Langlaufrennen.» Sagt’s und fügt gleich an: «Es geht hier nicht um Prestige, sondern um den Sport und die atemberaubend schöne Natur.» Einst habe er bei einem Rennen zwischen S-chanf und Zernez gar eine Gämse erblickt. Für das heutige Rennen präparierte er seine Langlaufskier sorgfältig mit bestem Wachs. «Seine Skier selber zu wachsen, gehört zum Langläuferstolz.» Ob er dabei alles richtig gemacht hat, wird sich zeigen. Sein Ziel: «Ich möchte eine Zeit unter 2 Stunden und 50 Minuten laufen.» Wird er es schaffen?
In Maloja füllt sich die Mehrzweckhalle. Hier versammeln sich alle Teilnehmer. Wenige hundert Meter weiter, am Rande des Silsersees, wird in einer Stunde das Rennen starten. Noch ist die Stimmung gelöst. In der Turnhalle stehen die Läufer in kleinen Gruppen beieinander, diskutieren und lachen. Einzelne wechseln ihre Kleidung, checken nochmals ihre Ausrüstung oder schlürfen einen heissen Tee. Im Eingangsbereich verteilt Guolf Denoth die letzten Startnummern. Es fällt auf, dass diese nicht alle gleich daherkommen. Denoth erklärt, dass der Verein nur über 250 Startnummern verfüge, man aber dieses Jahr einen neuen Rekord bei den Anmeldungen zu verzeichnen hatte: Es stehen 284 Läufer am Start; 34 mehr als der Verein Startnummern hat. Die kurzfristig nachbestellten Startnummern sehen nun etwas anders aus – was bei diesem familiären Anlass niemanden stört. Mit dem Sonnenaufgang über dem Piz da la Margna, dem Wächter des Oberengadins, werden die wärmenden Getränke leergetrunken, die letzten Nummern montiert und die Läufer begeben sich zum Start. Warm wird es nicht, denn an diesem Morgen bläst ein steifer Nordwind über die Oberengadiner Seenplatte. Für die Läufer bedeutet dies, dass sie sich einem fiesen, beissenden Gegenwind stellen müssen. Derweil steht Wettkampfleiter Denoth auf der Pritsche eines Pistenfahrzeugs. In der einen Hand hält er, der hauptberuflich als Wildhüter arbeitet, eine Flinte. Mit ruhiger, fester Stimme übertönt er die Gespräche auf dem Startplatz: «Noch zwei Minuten bis zum Start!» Die Läufer sind inzwischen alle aufgereiht. Der Himmel ist wolkenfrei und auch die Stimmung unter den Wettkämpfern ist heiter. Es wird gelacht und geplaudert, kein Aussenstehender würde denken, dass die fröhlichen Damen und Herren eine sportliche Höchstleistung vor sich haben.
«Noch eine Minute!» Die Gespräche verstummen. Unter den Teilnehmern breitet sich Ruhe und Anspannung aus. Dann reckt Denoth die Flinte gegen den blauen Himmel und: «Kawumm!» Ein Schuss zerreisst die Stille. Das Spektakel beginnt. Die Läufer der vordersten Reihe preschen los wie heissblütige Araber, die aus der Startbox ins Pferderennen stürmen. Dahinter kommen diejenigen, die es etwas gemächlicher angehen. Und ganz hinten läuft Stefan Triebs. Er kam vor einem Jahr als Letzter ins Ziel, das Jahr davor genauso. Und dieses Jahr wird es nicht anders sein. Denn Triebs ist der Schlussläufer. Gut erkennbar am Besen, der aus seinem Rucksack ragt. Er ist dafür zuständig, dass alle rechtzeitig ins Ziel kommen. «Mich will eigentlich keiner sehen», sagt er und lacht. «Letztes Jahr erblickte mich eine junge Läuferin, sie brach sogleich in Tränen aus.» Denn wer ihn sehe, der wisse, dass er der letzte Läufer sei. «Die Dame erzählte mir, dass sie noch nie im Leben die Letzte war.» Sie verstand die Welt nicht mehr. Stefan Triebs tat, was seine Aufgabe ist, er motivierte die Läuferin. Zauberte ihr wieder ein Lächeln ins Gesicht. Und falls jemand entscheidet, das Rennen aufzugeben, «nehme ich seine Startnummer und zeige ihm, wie er am besten nach Zernez kommt.» Manchmal muss er erschöpfte Läufer praktisch zum Aufgeben überreden. Früher lief Triebs selber als Aktiver mit. Nun stellt er sich in den Dienst des Skiclubs.
Bis S-chanf verläuft die Strecke auf derselben Loipe wie der Engadin Skimarathon. Mit diesem möchte Guolf Denoth den heutigen Lauf indessen nicht vergleichen. «Maloja-Zernez ist ein einfach organisiertes Rennen», ein Kontrast zum Grossevent und: «Prominente Läufer verirren sich wenige hierher.» Er habe schon mehrere Telefonate mit Profis geführt. Als diese die Höhe des Preisgelds erfuhren, ein Gutschein über CHF 150.– für ein Abendessen, war eine mögliche Teilnahme meist vom Tisch. Ab S-chanf, dem Zielort des Engadin Marathons, folgt bis Zernez der herausfordernste Streckenabschnitt überhaupt, auf dem einige happige Anstiege auf die Läufer warten.
Die Suche nach dem Ursprung des Langlaufrennens führt an den
Stammtisch des Hotels Crusch Alba in Zernez und zu Reto Rauch und
Riet Schorta, zwei der Initianten des Langlaufrennens. Die ersten Jahre
legten die beiden mit Kollegen aus dem Skiclub Sarsura Zernez die
Strecke noch mit Unterbrüchen zurück. Genuss und Spass standen
im Vordergrund. Unterwegs assen sie zu Mittag und genehmigten sich
auch mal ein Bier. «Gewonnen hatte, wer zurück in Zernez im Hotel
Crusch Alba als Erster ein Getränk bestellte.» Die Zeit auf der Getränkequittung
galt als Zielzeit.
Heute steht an der Ziellinie eine Zeitmessmaschine, bedient von Luzi
Pinggera. Er sitzt in einem kleinen Container neben der Ziellinie, wo
er den Startschuss über sein Mobiltelephon hört. Zusammen mit Felix
Riet hält er die Zeiten der ankommenden Athleten fest. Als Erster erreicht
der 22-jährige St. Moritzer Livio Matossi das Ziel, 2 Stunden und
15 Minuten nach dem Startschuss in Maloja. Er berichtet überglücklich
von idealen Bedingungen und sagt: «Nun strebe ich beim Engadin
Skimarathon einen Platz unter den ersten Fünfzig an.» Dann holt er
sich die Belohnung des Tages: eine Gerstensuppe und ein Stück Brot.
Schnellste Frau ist mit einer Zeit von 2 Stunden und 38 Minuten
Anja Eichholzer aus Zernez. Doch die beiden gelten deswegen nicht
automatisch als Sieger des Rennens. «Bei uns gewinnt der Läufer,
dessen Zeit am nächsten an der Durchschnittszeit aller Teilnehmer
liegt», sagt Denoth und fügt lachend an, dass der Sieger oder die
Siegerin meist ziemlich erstaunt sei über den Gewinn. In diesem Jahr
ist das Matteo Rocco Pastore, die Durchschnittszeit liegt bei 3 Stunden
und 8 Minuten. Auf eine Rangverkündigung verzichte man, denn:
«Wir möchten nicht, dass der Leistungsgedanke zuvorderst steht.» In
diesem Moment erreicht Reto Curti, der Tierarzt aus der Innerschweiz,
das Ziel. Sein selbst gesetztes Ziel von 2 Stunden und 50 Minuten
erreicht er mit Schweizer Pünktlichkeit: Die Messung zeigt eine Zeit
von 2 Stunden und 49 Minuten und 33 Sekunden. Er strahlt und
verspricht: «Ich werde im nächsten Jahr wieder dabei sein.»
Startgeld: CHF 60.–.
www.cdssarsura.ch