Die krafttreibende Aufgabe, am 1. März die eisige Jahreszeit zu vertreiben, kam einst in uralten heidnischen Zeiten den Jünglingen eines Dorfes zu. Heute ist der Brauch des «Chalandamarz» Herzstück eines der fröhlichsten Tage im Engadin und liegt fest in Kinderhand.
Schon früh am Morgen des 1. März, wenn der eisige Frost der Nacht den Morgen noch nicht der Sonne überlassen will, eilen leichte Schritte durch die Engadiner Dorfgassen. Vereinzelt tönt Glockengeläut und - war das etwa ein Peitschenknall? Ganz gewiss war er das, denn heute feiert das ganze Dorf den «Chalandamarz»!
Schon der Name deutet auf die historischen Wurzeln dieser Engadiner Tradition hin, denn als die Römer im 1. Jahrhundert n. Chr. über Raetia herrschten, galt der erste Tag («kalendae») im März («martius») als Beginn des neuen Jahres, als die jungen Männer das alte Jahr mit gehörigem Krach vertrieben und das neue Jahr mit einem rauschenden Fest begrüssten! Heute ist ist es die Jugend eines Dorfs, welche mit einem nachgespielten Alpauftrieb selbstbewusst den Winter vertreibt und den Frühling willkommen heisst.
Wo immer der «Chalandamarz» im Engadin gefeiert wird, spielen Lieder, klingende Kuhglocken und ein fröhlicher Kinderball mit Tanz und Musik zentrale Rollen. Doch damit erschöpft sich die Gemeinsamkeit der Ausgestaltung dieses bunten Brauchs (wenn man von der guten Laune aller Beteiligten mal absieht): Mal als reine «Bubensache», mal mit Mädchen und Jungen, mal traditionell wie im berühmten Kinderbuchklassiker «Schellen-Ursli» von Selina Chönz und legendär bebildert von Alois Carigiet, mal als Fasnachtsumzug mit satirischen Untertönen … die Vielfältigkeit der unterschiedlichen Chalandamarz-Traditionen eines jeden Dorfs spiegelt den Facettenreichtum des Engadins wieder.
Wie es sich für einen Alpauftrieb gehört, treiben die jungen «Hirten» (oft mit Pelerinen und Stock ausgestattet) die «Kühe» (die glockentragende Kinderschar mit blauen Bauernblusen und roten Zipfelmützen, geschmückt mit handgefertigten Papier- oder Seidenblumen), während der «Senn» (der älteste Schüler des Dorfs) die Gruppe überblickt und anführt. Macht er halt und sammelt sie um sich, wird der Senn zum Dirigenten: Zunächst ertönt aus hellen Kinderkehlen das berühmteste Chalandamarz-Lied von Otto Barblan über den Auszug der Kühe, Schafe und Ziegen aus ihren dunklen Ställen in den hellen Frühling, gefolgt von weiterem Liedgut aus der rätoromanischen Chalandamarz-Tradition. In einigen Gemeinden kann man dabei die prächtige Engadiner Tracht bewundern, die von den ältesten Mädchen getragen wird, wenn sie als «Herrinnen» von den Zuschauern kleine Geldspenden einsammeln.
«Erster März, erster April, lasst die Kühe aus dem Stall. Die Kühe gehen mit den Kälbern, die Mutterschafe mit den Lämmern, die Ziegen mit den Zicklein, die Hühner legen Eier. Der Schnee verschwindet, und das Gras wächst. Gebt ihr uns etwas, so segne euch Gott, und wenn ihr uns nichts gebt, so fresse auch der Wolf!» (Chalandamarzlied, Komponist: Otto Barblan)
Nicht nur am 1. März selbst stehen die jungen Darsteller im Rampenlicht, auch in der Vorbereitungszeit spielen sie die Hauptrollen, denn die Hauptorganisation dieses wichtigen Tages liegt ganz bei ihnen! Wer spielt welche Rolle? Woher bekomme ich eine Glocke? Wer die grösste Glocke tragen will - seit dem «Schellen-Ursli» weiss die Welt: Dies ist das erklärte Ziel einer jeden «Kuh»! -, muss sich etwas einfallen lassen, und die Papierblumen («Rösas») werden ebenfalls selbst gebastelt.
Die Erwachsenen, denen bei diesem Spektakel administrative Aufgaben oder das reichliche Bewirten der hungrigen Kinderschar zukommen, sind beim «Chalandamarz» stolze und fröhliche Zuschauer, wenn durch die Gassen ihres Dorfs die Glocken klingen, Peitschen knallen, die alten Lieder ertönen - und der Frühling endlich einzieht.