Wer liebt ihn nicht, den würzigen Duft der Engadiner Wälder? Wer bleibt nicht unwillkürlich inmitten einer sonnengewärmten Lichtung stehen, um ihn ganz tief einzuatmen? Die knorrige Arve vermittelt uns Menschen Ruhe und Kraft – kein Wunder, ist die «Königin der Alpen" doch selbst eine starke Persönlichkeit und eine wahre Überlebenskünstlerin.
Arven wachsen sehr bedächtig. Wind und Wetter zum Trotz recken sie sich langsam, aber stetig der Sonne entgegen. Die erste Blüte erleben sie in einem Alter, in dem wir schon wieder in Rente gehen, und doch ist dieser Lebensabschnitt erst das Ende ihrer Jugend. Schliesslich werden sie in der Regel mehrere hundert - zuweilen gar über tausend! - Jahre alt.
Weder über die Engadiner Winter noch über die Höhenlage klagt diese standhafte Kiefernart. Temperaturen bis zu -40 °C erträgt sie stoisch und lässt an der obersten Waldgrenze andere Baumarten hinter sich zurück. Ihre kräftigen Wurzeln schlingen sich um nackte Felsen und bohren sich hartnäckig in das Gestein auf der Suche nach Halt und Wasser. Das gewaltige Wurzelwerk kann Berghänge zusammenhalten und somit Siedlungen am Hang vor Erdrutschen schützen. Seit Jahrhunderten schon verehren die Engadiner ihre «Königin der Alpen», können sie sich ein Leben ohne Arve doch kaum mehr vorstellen.
Sie ist ein echter Klassiker, weit über die Landesgrenzen bekannt, ein wahrer Exportschlager: die Engadiner Nusstorte mit ihrer herrlich karamelligen Füllung aus gehackten Walnüssen. Ausgewanderte Engadiner Zuckerbäcker hatten diese süsse Verführung in Frankreich kreiert, doch in der Heimat standen ihre Zunftbrüder vor einem Problem: Im Engadin wuchsen keine Walnussbäume! Flugs wurde köstliche Abhilfe geschaffen und auf die aromatischen Arvensamen zurückgegriffen, die den weichen Pinienkernen ähneln und sehr nährstoffreich sind. Das Pulen der Samen aus der harten Zapfenschale war allerdings recht mühsam (für ein Glas benötigte eine Person vier Stunden!), so dass sich nur Gäste besonderer Anlässe auf diese Nusstorte freuen durften.
Heute ist die Arve geschützt und die Ernte der Zapfen streng reglementiert. Unbeschränkter Zutritt – oder vielmehr: Anflug – ist nur Einem gestattet: dem Tannenhäher, ohne den unsere Wälder heute nur spärlich mit Arven bewachsen wären. Nur der braune Vogel mit den hellen Punkten nährt sich von ihren fettreichen Samen und trägt seine Vorräte in die weite Engadiner Welt hinaus. Ohne diese Verbreitung über den Luftweg würden die schweren Arvenzapfen schlichtweg zu Boden plumpsen und lediglich zu Füssen des Mutterbaumes keimen.
Aussen knorrig, innen weich. Dass Arvenholz sich ganz wunderbar für den Möbel- und Innenausbau eignet, ist uraltes Wissen und liebevoll gepflegte Tradition. Die typische Engadiner Arvenstube mit ihren rustikalen Möbeln und zuweilen auch kunstvoll geschnitzten Wand- und Deckentäfelungen ist ein Ort reiner Gemütlichkeit. Wenn Sie hier zum Augenblick «Verweile doch! du bist so schön!» sagen, kann dies übrigens auch an der wohltuenden Wirkung des Arvendufts liegen, der den Herzschlag nachweisbar reduziert. Mit feinen Arvenflocken gefüllte Kissen sorgen daher auch für einen tieferen (und ruhigeren: Schnarcher schwören auf die heilsame Wirkung) Schlaf.