Lea Bärfuss ist 21 Jahre alt und sie bouldert. Es ist Anfang September, die ersten Sonnenstrahlen fallen bereits durch die Baumkronen. Sie schaffen ein warmes Licht.
An diesem Ort lagern Schätze, zumindest sind sie das in Leas Augen. Es sind unzählige Boulder Blöcke, welche der Morteratsch Gletscher bei seinem Rückzug abgelagert hat. Sie bilden Leas Spielwiese. Im Jahr 2010, als die Kletter- und Boulderhalle in S-chanf gebaut wurde, hat Lea mit dem Bouldern angefangen. Im Winter verbringt sie dort noch immer viel Zeit, um in Form zu bleiben.
«Das Zusammenspiel zwischen Technik, Schnellkraft, Beweglichkeit und Gleichgewicht, das ist es, was mir am Bouldern gefällt.» Jede Linie ist eine neue Herausforderung, man überlegt und bespricht, wie man sie am besten anpackt. So auch heute. Lea ist mit einer Freundin unterwegs. Beim Bouldern ist man meistens mindestens zu zweit, denn man klettert ungesichert. Gemeinsam putzen sie den Block und besprechen die Linie – Lea beginnt. Sie greift in das Säckchen mit Magnesium, setzt sich dann auf die Matte und hievt sich mit einem Schwung hoch. Zug um Zug. Ihre Freundin feuert sie an: «Allez Lea!» Das macht man beim Bouldern, um sich anzufeuern und für ein sicheres Gefühl. Die Person, die am Block hängt, weiss, dass jemand bereit ist die Matte zu verschieben. Wichtig, sollte man fallen. Bei Lea ist das an diesem Tag kaum nötig – sie bouldert die Linien ohne grössere Schwierigkeiten oder sucht am Block hängend eine andere Lösung. Sie ist zwar nach eigener Bezeichnung etwas faul, aber der Ehrgeiz, ihr Ziel zu erreichen, fehlt keineswegs. Glücklich und es scheint als wäre sie manchmal etwas erstaunt über den eigenen Erfolg, schaut sie vom Block nach unten. Sekunden später nimmt sie die Linie noch einmal in Angriff. «Beim Bouldern muss man mehr überlegen als beim Sportklettern.» Das sagt Lea bewusst mit einem Augenzwinkern, denn sie weiss, dass Sportkletterer dies anders sehen. Ein kleiner Seitenhieb an ihre Familie.
Lea ist in einer Klettererfamilie aufgewachsen. Doch war das Klettern nie ihre Leidenschaft. «Ich bin mit, weil alle mit sind.» Alle, das sind Mutter, Vater, Bruder und Schwester. Lea ist die jüngste der drei Geschwister und es brauchte immer einiges, damit sie in Schwung kommt, sagt sie von sich selbst. Sie ist eher die Gemütliche, nimmt alles etwas gelassener. Daher ist wohl auch Bouldern zu ihrer Sportart geworden, anstelle des Sportkletterns. «Ich bin ein gechillter Typ», sagt sie lächelnd. Und das passe zum Bouldern – man trifft sich mit Kollegen, bouldert ein paar Routen und verbringt dabei eine gute Zeit. Die Kombination aus Natur, Beisammensein und das gegenseitige Pushen – das sei Bouldern. Es geht nicht primär um Leistung, nicht darum der Beste oder Schnellste zu sein. Es geht darum, seine Linie zu finden, dabei auch mal kreativ zu sein und neues auszuprobieren. Wenn Lea bouldert sieht es elegant und einfach aus. Seit klein auf bewege sich die Familie Bärfuss in Klettergärten, erzählt Lea während wir zum nächsten Block laufen. An den Füssen trägt sie Flip-Flops, auf dem Rücken die Bouldermatte wie einen Rucksack. Die Matte faltet man einmal und dazwischen klemmt man ein, was man sonst noch dabeihat. Matte, Magnesium, Kletterschuhe. Mehr braucht es nicht zum Bouldern.
Schon der Start ist eine Sache für sich, denn man startet im Sitzen. Sitzstart nennt man das. Sieht easy aus beim Zuschauen – wie alles, was Lea am Block macht – doch einmal probiert und schnell resigniert, könnte so manch Fazit lauten.
Im Engadin ist das Bouldern noch nicht so weit verbreitet. Eine Szene gebe es nicht wirklich, sagt Lea. Es sind die gleichen Leute, die man auch vom Klettern kennt. Die Top Spots von Lea sind die Gebiete Morteratsch und Julier – hier trifft man sie regelmässig. Wichtig für einen Spot sei, dass es ein paar Blöcke beieinander habe, die Absturzstellen flach wären und die Blöcke aus kompaktem und nicht brüchigem Felsen bestehen würden. Wenn man darauf achtet, entdeckt man auf einigen Blöcken bereits Zeichen, die hinterlassen wurden. Sie zeigen eine Boulder Linie oder sind mit Namen versehen, quasi markiert. «Meine Schwester hat vor Jahren mal einen Boulder Führer geschrieben, als Maturaarbeit, viele der Blöcke haben wir daher markiert.» Wenn sich Lea ihre Blöcke aussucht, sieht sie auf den ersten Blick, ob es passt oder nicht. «Die Linien müssen einen ansprechen, eine schöne Kante und am liebsten noch überhängende Passagen haben. Die liebe ich besonders.» Ihre langen, dunkelbraunen Haare, die zu einem Pferdeschwanz gebunden sind, schwingen bei jeder Bewegung mit. Nach einem Tag bouldern zeigen sich die Spuren. Lea sitzt im Gras und pflegt eine Verletzung am grossen Zeh, die sie sich zugezogen hat. Sie ist auf etwas Spitzes getreten. Ein bisschen Tape um die blutende Wunde, das muss reichen. Auch die Finger schmerzen nach einem Tag an den Blöcken – das gehört dazu, sagt Lea während sie alles zwischen ihre Matte packt, sie auf den Rücken nimmt und den Wald am Morteratsch für heute verlässt.